Faust hat studiert und Wissen angehäuft, ohne jedoch seine dringendste Frage, „was die Welt im Innersten zusammenhält“, beantworten zu können. Er ist am Ende. Was tun? Was noch denken? In Begleitung einer mysteriösen Gestalt namens Mephisto begibt er sich auf einen Egotrip hinaus aus der Studierstube ins sinnliche Leben, um sein Verlangen nach Wissen und Erkenntnis zu stillen. Gretchen, in die er sich leidenschaftlich verliebt, wird das Opfer und der Preis dieser Selbsterfahrung sein.
Faust – längst zum Synonym für den Suchenden geworden – ,hat nichts von seiner Aktualität und Brisanz eingebüßt. Sein Konflikt ist der typische Konflikt des modernen Menschen, der sich auch heute noch die Frage gefallen lassen muss, wie weit er gehen würde, um sich und seine Ziele zu verwirklichen.
Über sechs Jahrzehnte erstreckte sich Goethes Auseinandersetzung mit dem Faust-Mythos. Als er zwischen 1772 und 1775, parallel zur Arbeit an seinem „Werther“, die erste Bearbeitung der mittelalterlichen Fabel erstellte, konnte er nicht ahnen, dass ihn dieser Stoff bis an sein Lebensende 1832 verfolgen würde.
Goethes „Urfaust“ als freche Tragikomödie am Linzer Theater Phönix
Schier endlos ragt der Bücherturm gen Himmel, an den sich Faust in seinem Studierzimmer klammert und an dem er sich emporhanteln möchte. Alles, selbst Theologie hat er studiert. Doch was zum Teufel ist es, das die Welt im Innersten zusammenhält?!
Harald Gebhartl schickt den nach Höherem strebenden Doktor auf einen tragikomischen, flott bis klamaukig inszenierten Egotrip in seiner Fassung des „Urfaust“ - mit Passagen aus Faust I und II samt Seitenhieben auf die neoliberal-globale Politik und einen US-Präsidenten mit satter Gage und goldener Guggenheim-WC-Leihgabe.
Üppigst ist die Rauchwolke, die des Pudels Kern preisgibt, mit Pathos eines wahren Mephistos würdig. Der wechselt, von seinem neuen Herrn gebührend auf Trab gehalten, zwischen Bong und Flachmann.
Gefühlskino und Tragödie
Auf Teufel komm raus wird in Auerbachs Partykeller gefeiert und zur schmissigen „You\'re going to hell“-Hymne (Musik: Gilbert Handler) in der Choreografie von Doris Jungbauer in Musical-Manier abgetanzt.
Verliebtheit haftet seit jeher das Irreale an: So erleben Faust und Gretchen ihre Annährung in Kinosesseln als großen Gefühlskino-Kitsch samt Rosenverkäufer. Eine kleine Faust-Parodie, die aber mit Gretchens eigentlicher Tragödie dem tief Ernsthaften weicht.
Auf jenes Puppenspiel der Faust-Sage, das Goethe als Kind zu seinem späteren Werk inspiriert haben soll, spielt eine Schaubude mit purpurnem Vorhang an, die im Bühnenbild von Gerald Koppensteiner zu Gretchens und Marthes biedermeierlicher Stube wird. Stilgetreu sind auch die Kostüme von Elke Gattinger.
Fausts Ego-Trip befeuert ein spielfreudiges Ensemble. Markus Hamele ist ein exzentrischer Faust, mit inbrünstigen Gefühlsausbrüchen. David Fuchs schrammt als sich windender Mephisto nah am Burn-out vorbei. Nadine Breitfuß ist ein schmerzlich unbedarft-naives, verliebtes Gretchen mit bravem Zopfkranz, dessen Flucht in den Wahnsinn als Kindsmörderin berührt.
Zwei schrille Travestie-Hexen und Faust umgarnende Studenten sind Adrian Hildebrandt und Felix Rank Marion Reiser gibt besonnen die lebenserfahrene wie berechnende Marthe. Kräftiger Premieren-Applaus nach rund 100 kurzweiligen Minuten.
GOETHES „URFAUST“
Rund 60 Jahre arbeitete Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832) an seinem „Faust“. Erste Entwürfe entstanden zwischen 1772-75, angeregt vom Prozess gegen die Kindesmörderin Susanna Margaretha Brandt 1770. 1808 erschien „Faust I“. 1832, kurz nach seinem Tod, erschien „Faust II“.
Seinen „Urfaust“ hat Goethe selbst vernichtet. Eine Abschrift wurde jedoch 1887 im Nachlass des Weimarer Hoffräuleins Luise von Göchhausen gefunden, 1918 wurde sie in Frankfurt/Main uraufgeführt. Während „Faust I und II“ gereimt sind, finden sich im Urfaust viele Prosastellen, einige Szenen fehlen, der Fokus liegt auf Gretchens Tragödie.
„Werd\' ich zum Augenblicke sagen: Verweile doch, du bist so schön! Dann magst du mich in Fesseln schlagen.“
Faust, zu Mephisto
Fazit: Goethes „Urfaust“ überzeugt am Theater Phönix als kurzweilige, freche Tragikomödie, in die viel Slapstick, Musical-Anspielungen und etwas Klamauk eingeflossen sind.
Premiere: Goethes „Urfaust“ am Theater Phönix
Als Goethe seinen „Urfaust“ schrieb, war er 23 Jahre alt. Skizzenhaft, impulsiv und wild waren seine Aufzeichnungen über den Denker, der mithilfe eines teuflischen Kompagnons ins echte, fleischliche Leben eintauchte und ein blutiges Schlachtfeld hinterließ.
Als eine durchwegs runde Geschichte hat der Chef des Theater Phönix, Harald Gebhartl, seinen „Urfaust“ am Donnerstagabend präsentiert. 20 Jahre nach der Premiere von „urfaust.goethe“ - ebenfalls inszeniert von Gebhartl, ebenfalls am Theater Phönix.
Es bleibt dabei nichts fragmentiert und offen, nichts ungestüm, jung oder besonders wild. Vielmehr wird auf der Bühne gut gekürzt jene Geschichte des Heinrich Faust erzählt, die gemeinhin bekannt ist.
Faust verzweifelt über der Frage „was die Welt im Innersten zusammenhält“, zaubert sich den Leibhaftigen herbei und nutzt den „Geist, der stets verneint“, um all seine ungestillten Bedürfnisse zu befriedigen. Dazu gehört auch die Eroberung des keuschen Gretchens, die ihm und den teuflischen Mächten erliegt. Am Ende wird Gretchen zur Mörderin, verliert den Verstand und ihr Leben.
Ein Faust in Unterhosen und ein Vampir-Mephisto
Markus Hamele wirft sich von Beginn an voll in seine Rolle des Dr. Faust, der sich in langen Unterhosen (Kostüme: Elke Gattinger) neben einem in den Himmel wachsenden Bücherturm (Bühne: Gerald Koppensteiner) windet und im Wahn eine höhere Macht anruft, die ihm jedoch nur mit seiner eigenen Stimme antwortet. Ist der Böse nur Alter Ego von Faust? Doch da taucht er auch schon in persona auf, der Mephisto von David Fuchs, in Leder, mit gegeltem Haar, vampiristischen Gelüsten und Asthmaspray. Ein bisschen böse, ein bisschen lächerlich, ein bisschen devot und ein nicht sehr erfolgreicher Verführer ist der Unaussprechliche in Gebhartls Inszenierung. In den letzten Momenten erst zeigt er seine wahre Macht. Faust und Mephisto, ein seltsames und Aufständisches Pärchen in der biederen Welt. Immer wieder humorige Momente, die todernst werden. Die wahre Tragödie jedoch kommt mit Nadine Breitfuß als Gretchen. Wenn sie Fausts erstes Geschenk wie die Büchse der Pandora öffnet, ist ihr Schicksal besiegelt. Breitfuß wandelt sich glaubhaft vom verliebten Mädchen zur schuldlosen Mörderin und liefert die stärksten Momente des Abends.
Die Musik von Gilbert Handler ist dominant, lange Gesangsnummern verwandeln den „Urfaust“ im Phönix stellenweise zum Musical - inklusive schräger Tanznummern (Choreografie: Doris Jungbauer). Als Wagner, geile Hexe im Netzstrumpf und exzessiv singender Rosenverkäufer tritt Felix Rank auf, als erfahrene Marthe und Siebelin Marion Reiser und als Brandner und Hexe Adrian Hildebrandt.
Harald Gebhartl inszeniert „Urfaust“ im Theater Phönix
Der „Urfaust“ von Johann Wolfgang von Goethe feierte am Donnerstag im Linzer Theater Phönix eine fulminante Premiere. Theaterchef Harald Gebhartl inszeniert den Urstoff als Punk-Varieté mit Sogwirkung! Dafür hat er auch ein wahrhaft wunderbares Ensemble und grandiose Musik zur Verfügung.
Faust, gespielt von Markus Hamele, hängt an der Büchersäule. Der Gelehrte sehnt sich nach Leben. Kaum leuchtet der Drudenfuß auf, wird Mephisto wie magisch angezogen. Sein Auftritt ist von Bellen und Nebel begleitet. Das Entree gelingt David Fuchs teuflisch und mächtig. Stark die Annäherung der beiden bis hin zum blutigen Kontrakt. Wahrlich Mensch und Teufel im Tanz auf dem Vulkan der Gefühle!
Es folgen rhythmische Gesangseinlagen, leichtes Modernisieren des Urtextes und humoristische Travestie. In mehreren Rollen bringen Felix Rank und Adrian Hildebrandt Stimmung auf, doch die Tragödie dahinter bleibt ernst.
Nadine Breitfuß als Gretchen darf Unschuld ausspielen. Marion Reiser als Frau Marthe lässt die Jüngere den leuchtenden Schmuck heimlich anlegen. Das Wohnzimmer ist in einer mittelalterlichen Jahrmarktsbühne mit rotem Samtvorhang gut aufgehoben. Die Liebe endet auf einer Parkbank, das tote Kind wird aus einem Kübel gezogen. Ein Ende ohne Knalleffekt, eher still und innehaltend.
Im Bild von Gerald Koppensteiner entfaltet sich eine brillante Lichtregie von Gordana Crnko, die diesem Urfaust cineastische Momente verleiht. Grandios und unverzichtbar ist dabei auch die Musik von Gilbert Handler. Regisseur Harald Gebhartl gelingt ein sinnliches Spektakel, das mit Travestie und Unschuld, mit echter Sehnsucht und endzeitlichem Wahnwitz operiert - und nicht mehr loslässt! Langer Beifall!