Petrell: Jugend ist das einzige Abenteuer unseres Lebens.
„Entweder man verbürgerlicht, oder man begeht Selbstmord. Einen anderen Ausweg gibt es nicht.“ Eine Studenten-WG in Wien, Anfang der zwanziger Jahre. Hier lädt die Medizinstudentin Marie stolz zu ihrer Promotionsfeier. Doch was als rauschendes Fest gedacht war, entwickelt sich mehr und mehr zum Albtraum. Maries Freund Petrell, ein Möchtegern-Poet, den sie über zwei Jahre lang ausgehalten hat, verlässt sie für eine Beziehung mit der ihr verhassten Kommilitonin Irene. Marie flüchtet in die Arme der extrovertierten Desiree, doch auch diese Affäre läuft zunehmend aus dem Ruder. Und Desirees Ex-Geliebter, der zynische Langzeitstudent Freder, zieht gnadenlos die Fäden in dem zerstörerischen Spiel um Macht und Abhängigkeiten.
Mit dem aufrüttelnden Gesellschaftsbild „Krankheit der Jugend“ gelang Ferdinand Bruckner 1926 der Durchbruch, dessen Intensität und Dramatik bis heute nachwirkt.
Premiere von „Krankheit der Jugend“ im Linzer Theater Phönix
Sie hauen sich die Sätze um die Ohren, als gäb\'s kein morgen. Die Hoffnung auf eine verheißungsvolle Zukunft ist den sieben jungen Menschen in Ferdinand Bruckners 1926 uraufgeführtem Klassiker „Krankheit der Jugend“ ohnehin nicht eingeschrieben. Regisseurin Christine Eder beschleunigte die Premiere am Donnerstag im Linzer Theater Phönix zu einem Sätzegewitter: Dialoge wurden zu Wortflächen, Rede und Antwort überlappten einander.
Man ahnt, was kommt, wenn sich resignierte Medizinstudenten im Verbürgerlichungs-Strudel nur noch mit Zynismus über Wasser halten. Im Muster von Ersatzhandlungen zwischen Lust und Macht ist Liebe längst durchgefallen. Die ruhigen Momente, in denen dem Publikum das Höllenstakkato ins Unterfutter kriecht, gewährleistet Thomas Butteweg. Seine Techno-Beats, denen er sphärische Theremin-Klänge zuwinkt, sind Labstellen auf der apokalyptischen Reise.
Gehege der jungen Seelen
Bühnenbildnerin Monika Rovan hat bloß die Vornamen der Figuren in leuchtenden Lettern in den schwarzen Raum geklebt. Es ist das Gehege der jungen Seelen. Hier soll Maries Promotion gefeiert werden - und vielleicht wäre alles bloß trostlos wie immer geblieben, hätte nur der Dichter Petrell (Felix Rang als liebevoll zaudernder Poet) Marie nicht den Laufpass gegeben. Er schwärmt jetzt für die nüchterne Streberin Irene (facettenreich: Lisa Schrammel). Der ewige Macho-Student Freder (dämonisch bedrohlich: David Fuchs) meint, er könne sie alle haben und landet bei der Putzfrau Lucy (großartig dankbar: Nadine Breitfuß), die sich ob seiner Zuwendung auch dann erhaben fühlt, wenn er sie auf den Strich schickt. Desiree (herausragend: Marion Reiser) brät Marie an, aber die kommt erst nach Petrells Abwendung angekrochen. Der verständnisvolle, textarme Alt, aus dem Markus Hamele eine bedeutsame Figur gestaltet, balanciert die Pole. Desiree will der Härte des Strich-Lebens auch nachspüren, Marie verbietet es. In der Nacht stirbt Desiree an einer Überdosis. Also biegen Freder und Marie gemeinsam in den Schlusssprint, den Eder gedoppelt ins Ziel bringt. Gemäß Bruckner: Er hatte auch zwei Fassungen für die Premieren in Hamburg und Breslau geschrieben. Eine, die Marie in den Tod schickt; und die andere, in der Freder mit ihr ins Leben taumelt.
Eine Zukunft gibt\'s ja immer, auch wenn man sich dorthin nicht eingeladen fühlt. Eindringlicher Applaus für intensive 75 Minuten.
Premiere von Ferdinand Bruckners „Krankheit der Jugend": Tolle schauspielerische Leistungen, aber manisch-depressives Geplänkel
Imposantes Bühnenbild: Raumfüllende SD-Leuchtbuchstaben - die Namen der WG-Bewohner, die bei der Premiere am Donnerstag im Phönix eine sprach-gymnastische Meisterleistung boten. Ferdinand Bruckners Studentendrama „Krankheit der Jugend" (UA 1926) spielt im Wiener Studentenmilieu der frühen Zwanzigerjahre. Es traf den Nerv einer Nachkriegsjugend, die verzweifelt nach Perspektiven suchte und diese oft nur im Rückzug, im Rausch und im Zynismus fand. Die vier Mädchen und drei Burschen der Wohngemeinschaft treiben sich aus Mangel an Zielen gegenseitig in den Wahnsinn, verführen und betrügen einander und betteln danach um Hilfe.
Psychomüll wird bei den anderen abgeladen
Die WG gerät zum Kampfplatz. Alle suchen auf ihre Art Nähe zu den anderen. Egal, wie nah sie sich körperlich kommen - sie bleiben einander fremd. Jeder liefert seinen mehr oder weniger intellektuellen Psychomüll beim anderen ab. „Seelisch auf die Toilette gehen", heißt es im Stück. In Wirklichkeit findet keiner aus seinem Egotrip heraus und fühlt sich nach den Begegnungen leerer als zuvor. „Gegen Hoffnungslosigkeit gibt es sowieso kein Mittel." Mit wollüstiger Grausamkeit lässt Langzeitstudent Freder (David Fuchs) alle seine Freunde ins Messer rennen. Die blonde Lucy (Nadine Breitfuß) überredet er zu Prostitution und Diebstahl. Maries (Anna Maria Eder) Freund Petrell (Felix Rank), den sie über zwei Jahre lang ausgehalten hat, verlässt sie für eine Beziehung mit der Kommilitonin Irene (Lisa Schrammel). Die Freiheit zum Selbstmord scheint erregend. „Man darf nicht desertieren", hält Alt (Markus Hamele) dagegen. „Entweder man verbürgerlicht, oder man begeht Selbstmord. Einen anderen Ausweg gibt es nicht", meint die Lesbe Desiree (Marion Reiser). Sie macht später mit einer tödlichen Dosis Veronal tatsächlich Schluss, „zugrunde gegangen am Unbedeutenden". Die Inszenierung bietet die Schlussszene in zwei Varianten an. Regisseurin Christine Eder setzt auf zeitgeistig rasend schnelle Dialoge. Eine Versuchsanordnung, die klar macht, dass man auf den anderen bei dem Tempo nicht wirklich eingehen kann. Es zählt nur die Selbstdarstellung. Die einst skandalösen übergriffigen Küsse stehen für ausufernden Sex und die Figur des Freder für die Flucht in den Alkohol. Die Szenen schaukeln sich im Wortstakkato zu Gefühlsexzessen auf. Als Bruch dazwischen eine Slow Motion-Szene. Tolle schauspielerische Leistungen, scharf gezeichnete Typen, coole Musik (Thomas Butteweg), aber insgesamt ein manisch-depressives Geplänkel, das diese Jugend nicht krank, sondern alt aussehen lässt.
„Krankheit der Jugend“ überzeugt im Linzer Theater Phönix
Das aktuelle Stück „Krankheit der Jugend“ am Linzer Theater Phönix macht aus einem wenig bekannten Klassiker ein Drama von Jetzt. Entstanden in der Zwischenkriegszeit, zeichnete der deutsch-österreichische Autor Ferdinand Bruckner ein bitter-bizarres Psychogramm, in dem junge Menschen versponnen sind.
„Entweder man verbürgerlicht oder man begeht Selbstmord. Einen anderen Ausweg gibt es nicht“, sagt Medizinstudentin Desiree, die später als Einzige aus dem skurrilen Totentanz ausbrechen wird. Es ist ein Wechselbad der Gefühle, das alle Beteiligten am Köcheln halten. Doch eigentlich geht es mehr um Liebe und Nähe, die jeder der Abenteurer sucht, aber nicht findet und schon gar nicht dem anderen gönnt. Dafür geht man an psychische Grenzen, manipuliert und erpresst, um in der nächsten Minute Spaß zu haben.
Die Inszenierung von Christine Eder ist kurzweilig und (etwas zu) unterhaltsam. Sie liebäugelt mit Ekstase und Gewalt, lässt es aber nicht wirklich brutal zu. In den kurzen Pausen zwischen den Akten rockt Live-Musiker Thomas Butteweg. Es spielen Anna Maria Eder, Marion Reiser, Lisa Schrammel, David Fuchs, Felix Rank, Markus Hamele und Nadine Breitfuß.
Krankheit der Jugend - Christine Eder inszeniert Ferdinand Bruckners Stück am Theater Phönix in Linz als beängstigend rasante Leere
Linz, 11. Mai 2017. Zwei vertrocknete Pizzaschnitten sind noch da. "Iss das", sagt Feder zu Marie. Sie: "Es wird weitergelebt." Er: "Essen sollst du!" Das ist das eine Ende. Das endgültige für jene jungen Leute, die ein Stück lang wortreich von sich weg geschoben haben, dass sie "zur Verbürgerlichung geboren" seien. Dieses Weiterleben ist fast ein Tod.
Aber da ist noch die andere Finalfassung für Ferdinand Bruckners Stück "Krankheit der Jugend". Die ist wirklich letal für Marie, die hoffnungsvolle Jung-Ärztin, deren Fest zur Promotion in verheerendem Kreisel-Sog sich zur Beziehungs- und Lebenskatastrophe verdichtet hat. "Krankheit der Jugend" ist 1926 ja an zwei Orten uraufgeführt worden, an aufeinanderfolgenden Tagen. In den Hamburger Kammerspielen ging es tödlich aus für Marie, im Lobe-Theater in Breslau wurde weitergelebt. Beide Fassungen sind also authentisch.
Das unverzichtbare Stück der Stunde?
Christine Eder bietet im Linzer Theater Phönix beide Optionen an: zuerst die krasse Variante, dann eine Rückblende. Auf geht's ins illusionslose Nicht-Sterben! Hat etwas, diese Schluss-Verdoppelung: Die Protagonisten in Ferdinand Bruckners rabenschwarzer Jugend-Analyse haben ja selbst zu keinem Zeitpunkt gewusst, was die nächsten fünf Minuten bringen werden.
Alles geht und nichts geht, alles ist offen und doch jede Tür nach draußen versperrt: Desolater hatte bis dahin keiner eine Jugend beschrieben, die ausweglos selbstreferentiell denkt und mangels irgendwelcher Vorbilder auf sich selbst zurück geworfen ist. "Was brauchen wir Ärzte in dieser verrotteten Zeit?" Ist Ferdinand Bruckners Text das unverzichtbare Stück zur Ich-AG unserer Tage?
Man muss schon ein wenig nachhelfen. Gar zu gespreizt, gar ein wenig aufdringlich konstruiert kämen manche Dialoge daher. Die Regisseurin hat diese Gefahr gesehen. Die Studenten-WG siedelt sie, ohne vordergründige Hippie- oder Blumenkind-Zitate, vielleicht in den Achtundsechzigern an. Was ist damals in den WGs diskutiert worden, wie eloquent um sich geworfen mit fertigen Denk- und Formulierungs-Versatzstücken! So hält man es auch in der Linzer Inszenierung: Da sind die schneidig-selbstbewussten Antworten fast schon da, ehe die angriffigen Fragen so recht ausgesprochen sind. Ein beständiger Schlagabtausch, eine beängstigend geschliffene Rasanz der Leere. Doch dann plötzlich tun sich in diesem von der Regie und einem starken jungen Ensemble hochmusikalisch synchronisierten verbalen Schlagabtausch die nötigen kleineren und größeren Gedankenpausen auf. Plötzlich blickt man in die Seelen, in die früh geleerten (oder gar nie aufgeladenen) Batterien der jungen Menschen.
Tunichtgut als Magnet
Anna Maria Eder ist die Marie, die von der Zurückhaltenden zur Fordernden wird, mit gebündelten Temperamentsausbrüchen taumelnd zwischen den Beziehungen. Die drei anderen Frauen sind alle charaktermäßig ein klein wenig Marie: tendenziell lasziv, aber voller Frust ob uneingelöster Erwartungen Desiree (Marion Reiser); stocksteif die karrierebewusste, aber eben nur an der Oberfläche gefühlskalte Irene (Lisa Schrammel); strohdumm das Landei Lucy (Nadine Breitfuß), das sich sogar einreden lässt, auf den Strich zu gehen.
Strippenzieher ist der vor Selbstbewusstsein schier berstende Feder (David Fuchs). Ein Tunichtgut, der so tut, als täte er jeder der Frauen gut. Für alle ist er letztlich Magnet, weil lebendes Sinnbild verlorenen oder nie gefundenen Lebenssinns. In diesem differenziert gezeichneten und ohne Schwächen umgesetzten Psychogramm sind auch die männlichen Randfiguren - Felix Rank als der weltfremde Jungpoet Petrell und Markus Hamele als der notorische Frauen-, ja Menschenversteher Alt - mehr als Stichwortbringer.
Stimmungsvolles Nichts
Wichtig ist auch der als Live-Elektroniker mit Theremin-Klängen in Erscheinung tretende Musik-Mixer Thomas Butteweg: Er hat viel Anteil an der letztlich doch eher orts- und zeitungebunden wirkenden Inszenierung, genauso wie das stimmungsvolle Nichts an Bühne von Monika Rovan. Bloß schwarze Gaze-Vorhänge, auf die mit bunten Klebebändern in riesigen Buchstaben die Namen der Protagonisten geschrieben sind. Nicht zu vergessen auf ein paar Matratzen. Auf einer davon wird Desiree ihr junges Leben mit Gift beenden und so die beiden unterschiedlichen Finalszenen mit Marie und Feder einleiten. Ein ultrakurzer, aber intensiver Abend.